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Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit

20 Jahre nach der Ratifizierung der KRK durch die Schweiz: vierter ADEM Artikel zum Thema des Rechtes, die erreichbare Höchstmass an Gesundheit zu geniessen!

Das Jahr 2017 markiert das 20-jährige Jubiläum der Ratifizierung der Kinderrechtskonvention durch die Schweiz. Aus diesem Anlass veröffentlicht die ADEM (Allianz für die Rechte der Migrantenkinder) eine Folge von Artikeln, die sich mit den spezifischen Rechten von Migrantenkindern und unbegleiteten Minderjährigen beschäftigt.

Dieser Artikel behandelt das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit, welches in Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes verankert ist und dessen erster Absatz folgenden Wortlaut hat: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit an, sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen sich sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird.

Das Recht des Kindes auf Gesundheit hat weltweite Geltung und bezweckt nicht nur die Prävention und den Zugang zu Gesundheitsmassnahmen, sondern auch das Recht, heranzuwachsen und sein volles Potenzial zu entfalten (1). Gesundheit ist für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein positiver Begrif: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. (2)“ Deshalb berücksichtigt der Begriff des „erreichbaren Höchstmasses an Gesundheit“ auch die biologische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Lage des Kindes.

Gesundheit und MNA (unbegleitete Minderjährige)

Im Bereich der Gesundheit sind die Vertragsstaaten, inklusive der Schweiz, dazu verpflichtet, unbegleiteten minderjährigen Migranten denselben Zugang zu Gesundheitsmassnahmen zu gewähren wie den einheimischen Kindern. Bei den MNA ist zudem ihre Trennung von der Familie zu berücksichtigen, ein schwer ertragbarer und überwindbarer Verlust, aber auch die weiteren Traumata und Missbräuche, die sie in vielen Fällen während ihrer Reise erleben mussten. Als Migranten, Jugendliche (die meisten sind zwischen 13 und 17 Jahre alt (3)) und ohne familiäre Unterstützung sind diese jungen Menschen besonders verletzlich. Sie sind „den gängigen Gesundheitsrisiken der Jugend (psychische Gesundheit und Risikoverhalten) und gleichzeitig auch den Risiken der Migration ausgesetzt (4) “. Die sieben Selbstmordversuche von minderjährigen Asylsuchenden im EVAM (Etablissement vaudois d’accueil des migrants; waadtländische Einrichtung zur Aufnahme von Migranten) im November 2016 zeugen von diesen Schwierigkeiten (5).

Drei Faktoren bestimmen den physischen und psychischen Gesundheitszustand von MNA in der Schweiz (6). Erstens entspricht der Gesundheitszustand der Neuankömmlinge meist jenem der Bevölkerung im Herkunftsland (viele Migrantenkinder kommen aus Ländern, in denen Unterernährung und Infektionskrankheiten allgemein verbreitet sind, in denen Zahnprobleme nicht behandelt werden, wenig geimpft wird und Kinder verschiedensten Formen von Gewalt ausgesetzt sind). Zweitens kann sich die Gesundheit während der Migration verschlechtern (z.B. wenn der Jugendliche ein traumatisierendes Ereignis erlebt hat, inhaftiert worden ist, sich nicht genügend ernähren konnte oder in einem Umfeld leben musste, in dem es an Hygiene mangelte). Schliesslich sind die jungen Menschen bei ihrer Ankunft in der Schweiz mit der fremden Sprache und der fremden Kultur konfrontiert und erhalten oft nur ungenügende Information. Ohne Kenntnis ihrer Rechte, ohne angemessene Unterstützung und ohne Kenntnis des Gesundheitssystems besteht die Gefahr, dass sie nicht, zu spät oder falsch behandelt werden.

Die Schweizer Konferenz für öffentliche Gesundheit vom 15. November 2016, welche sich dem Thema der Gesundheit von Flüchtlingen widmete, hat das grundlegendste und dringlichste Problem erkannt: „Es sind nicht die Infektionen, sondern die Traumata, welche die grösste Herausforderung für das schweizerische Gesundheitssystem darstellen (7)“. Diese Erkenntnis unterstreicht die Notwendigkeit, Folgendes zu gewährleisten:

a) Eine angemessene Betreuung

Diese sollte den Bedürfnissen der Jugendlichen entsprechen, multidisziplinär (allgemeine und psychische Gesundheit, soziale und schulische Unterstützung) und interkulturell sein (die Jugendlichen brauchen Übersetzer und kulturelle Mediatoren) (8). Denn es ist unabdingbar, dass der Jugendliche über die Behandlungsschritte in einer Sprache informiert wird, die er versteht und in der er sich ausdrücken kann und dass dadurch das übergeordnete Prinzip der „Mitbestimmung“ eingehalten wird.

b) Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen

Die zweite Herausforderung ist es sicherzustellen, dass die Jugendlichen von einem Arzt, einem Psychiater und/oder einem Psychologen begleitet werden und sich zu den Terminen begeben. Als Beispiel soll die Abteilung für Kinderpsychiatrie im Universitätsspital Genf (HUG) erwähnt werden, welche ein mobiles und pluridisziplinäres Team aufgestellt hat (ein Krankenpfleger, ein Psychologe und ein Psychiater), das sich direkt in die Unterkünfte der Jugendlichen begibt. Dort identifizieren die Gesundheitsexperten zusammen mit den Sozialpädagogen jene Jugendlichen, die psychologische Probleme haben, führen die nötigen Abklärungen durch und überweisen die jungen Menschen an einen Spezialisten (9).

c) Früherkennung

Die dritte Herausforderung besteht darin, etwaige psychologische Probleme frühzeitig zu erkennen, etwa bei posttraumatischen Belastungsstörungen. Dazu müssen die Leiter der Migrantenunterkünfte sensibilisiert werden. Bestenfalls müsste die Früherkennung bereits in den Empfangszentren des Bundes vorgenommen werden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Schweiz als Zufluchtsort dieser Jugendlichen grosse Mühe geben muss, um den besonderen Bedürfnissen der Migrantenkinder gerecht zu werden und dafür zu sorgen, dass diese sich bestmöglich entwickeln und alle in der KRK definierten Rechte in Anspruch nehmen können. Der Kinderrechtsausschuss hält in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 20 folgende resilienzfördernden Faktoren fest: „starke Beziehungen zu erwachsenen Bezugspersonen, die dem Kind als Vorbild dienen und es unterstützen, angemessene Lebensbedingungen, Zugang zu einer soliden Sekundarbildung, Abwesenheit von Gewalt und Diskrimination, die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und Entscheidungen zu treffen, Sensibilisierung für die psychische Gesundheit, Problemlösungs- und Bewältigungsstrategien, sowie eine sichere und gesunde Umwelt“. Unsere Bemühungen sollen sich auf diese Aspekte richten!

Zum gleichen Thema: Nationales Colloquium vom 7. Dezember 2017, organisiert von der ADEM, dem Schweizerischen Roten Kreuz und dem Verbund Support for Torture Victims.

Artikel von Aline Sermet (IDE) für die ADEM

1- Allgemeine Beobachtung Nr. 15 über das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit, Komitee der Rechte des Kindes, 17.04.2013
2- Präambel der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation angenommen durch die internationale Gesundheitskonferenz, abgehalten in New York vom 19 Juni bis zum 22 Juli 1946.
3- Statistik UMA 2016, Staatssekretariat für Migration SEM
4- In : Une population qui grandit ? Les mineurs non accompagnés aujourd’hui en Suisse, S. Depallens, C Plati, AE Ambresin, in : Paediatrica Spezialausgabe 2016, S. 21
5- Sept tentatives de suicide parmi les requérants (Sieben Selbstmordversuche unter den Asylbewerbern), S. Arboit, in : Journal 24 Heures, 11. November 2016
6- ISSOP position statement on migrant child health, International Society for Social Pediatrics and Child Health, Genf, in : Child Care Health Dev. 2017; 1-10
7- Schweizer Konferenz für öffentliche Gesundheit, 15.11.2016, Medienmittteilung
8- In : Une population qui grandit ? Les mineurs non accompagnés aujourd’hui en Suisse (Eine grösser werdende Gruppe? Unbegleitete minderjährige heute in der Schweiz), S. Depallens, C Plati, AE Ambresin, in : Paediatrica Spezialausgabe 2016, p. 21
9- Good-Practice-Katalog-Projekt : Vielversprechende Ansätze der Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen in der Schweiz , Internationaler Sozialdienst Schweiz